„Die grundlegende Selbstverständlichkeit einer Person in ihrer Individualität gerecht zu werden“
Was als Pilotprojekt 2014 angefangen hat, wuchs ab dem „Sommer der Flucht“ im Jahr 2015 zu einer Dachmarke mit zehn Teilprojekten heran. Hier blicken wir mit den Teilprojekten auf die bewegten vergangenen Jahre zurück. Heute sprechen wir mit Susanne Neumann, der Projektleitung von ARRIVO BERLIN Wege zum Berufsabschluss.
Frau Neumann, Ihr Projekt fußt auf der Überzeugung, dass viele jungen Menschen, die seit 2015 zu uns flüchteten bereits Erfahrungen und Kompetenzen mitbringen, die sie mittels einer entsprechenden Begleitung in den hiesigen Arbeitsmarkt einbringen können. Wie kamen Sie zu dieser Überzeugung?
Diese Erkenntnis kam in mehreren Schritten. Zunächst stellten die Berater_innen des ebenfalls von mir geleiteten Projektes „Erfolg mit Sprache und Abschluss“ (EMSA) fest, dass immer mehr Personen mit einem Asylantrag Beratung suchten, aber dass die Bedarfe andere waren als die von bisher in Deutschland lebenden Migrant_innen.
Inwieweit unterscheiden Geflüchtete sich von anderen Menschen mit Migrationserfahrung?
Das Grundverständnis über das Zusammenspiel von Institutionen war bei Geflüchteten anders, aber auch die Rolle und die Einschätzung von Aussagen von allen involvierten Akteuren musste viel stärker erläutert werden: Was ist der Unterschied zwischen einer Schule und einem Bildungsanbieter, zum Beispiel, oder was können Vermittler_innen beim Jobcenter bestimmen? Daraus entstanden 2015 ein Schnittstellenpapier und eine Aufstellung der besonderen Bedarfe in der Informationsarbeit und Beratungsleistung zum Berufsabschluss für Geflüchtete im Vergleich zu Migrant_innen mit deutschen Sozialisationsabschnitten.
Welche Schlüsse zogen Sie aus dem Papier, was für das Entstehen von ARRIVO BERLIN Wege zum Berufsabschluss entscheidend war?
Daraus wurde deutlich, dass sich unter den Geflüchteten nicht nur junge Menschen als Potential für die Erstausbildung, sondern auch viele junge Erwachsene mit beruflichen Erfahrungen und Kompetenzen verbargen. Deren Wege zum Berufsabschluss für den Einzelnen zu reflektieren, schien uns damals wie heute lohnenswert. Daraus entstand die Idee Erfahrungen von EMSA ins Netzwerk von ARRIVO BERLIN zu transferieren und den besonderen Bedarfen der Geflüchteten auch in Bezug auf den Berufsabschluss so viel Wert beizumessen, dass daraus ein eigener Projektinhalt mit Informations- und Begleitungsziel entstand.
Sie erwähnten bereits die unterschiedlichen Bedarfe von geflüchteten Menschen und Menschen mit Migrationserfahrung. Haben die beiden Gruppen sich mittlerweile in dieser Hinsicht ein wenig angenähert?
Die Bedarfe werden ähnlicher, unterscheiden sich aber vor allem in der individuellen beruflichen Orientierung, den wirtschaftlichen Zwängen und natürlich weiterhin in der Abhängigkeit der persönlichen Zukunft vom Aufenthaltsstatus. Das Gute ist, dass die Geflüchteten, die in der Zeit 2015/2016 Asyl beantragt haben, mittlerweile ebenfalls einen Sozialisationsabschnitt in Deutschland haben. Darauf kann nun aufgebaut werden, auch wenn es noch viel zu tun gibt, insbesondere für die Unterstützung von Kindern und Familien.
In Ihrem Projekt arbeiten Sie intensiv und alltäglich mit geflüchteten Menschen zusammen. Wie verändert sich dadurch Ihr Blick für das Thema Flucht?
Mein Bild von geflüchteten Menschen vor 2015 war eindeutig und manchmal stereotypisch geprägt von Geflüchteten als „Opfer“ – von Systemen, Gesetzen, Kriegen, von mir als verachtungswürdigen bewertenden Einstellungen. Die Komplexität der Probleme in vielen Ländern führt aber dazu, dass ich differenzierter auf die Menschen mit Fluchthintergrund schaue, mit allen entsprechenden Schattierungen. Die grundlegende Selbstverständlichkeit, dass ich einer Person nur in ihrer Individualität gerecht werden kann, macht auch im Falle der geflüchteten Menschen keine Ausnahme.
ARRIVO BERLIN existiert nun ein halbes Jahrzehnt, was macht Sie persönlich stolz?
Die geflüchteten Menschen, die wir auf den Weg zur Arbeit begleiteten, wie zum Beispiel der Geflüchtete, der die Qualifikationsanalyse im Beruf Optiker durch die Handwerkskammer Berlin (HWK) bestanden hat und bei Fielmann angestellt ist. Außerdem sind die Mitarbeitenden im Team ein Highlight, da sie alltäglich mit gemeinsamen Werten das Ziel Berufsabschluss verfolgen und engagiert und überzeugt arbeiten trotz des Wissens, dass auch unsere Arbeit nur ein Mosaikstein im großen Feld der Integration von Geflüchteten in die Arbeitswelt und die Gesellschaft sein kann.