Traumasensible Haltung und Arbeitsweise
Wir konnten einen psychologischen Psychotherapeuten, der bei der Kontakt- und Beratungsstelle für Flüchtlinge und Migrant_innen (KuB) arbeitet, für einen Gastbeitrag gewinnen. Er schildert uns Möglichkeiten, eine traumasensible Gesprächsatmosphäre zu entwickeln, um mit Menschen, die potenziell traumatische Situationen erlebt haben können, eine tragfähige und vertrauensvolle Arbeitsbeziehung zu etablieren.
Gastbeitrag von Till Voigts
Es ist hilfreich und wichtig, Menschen, die potenziell traumatische Situationen erlebt haben können, mit einer traumasensiblen Haltung zu begegnen, um eine tragfähige und vertrauensvolle Arbeitsbeziehung zu etablieren. Nur so kann es gelingen, in der gemeinsamen Arbeit eine Atmosphäre zu schaffen, die es der ratsuchenden Person ermöglicht über ihre (psychischen) Herausforderungen zu sprechen und sich so zu öffnen, wie es für sie in dieser spezifischen Situation hilfreich ist. Ist die Arbeitsatmosphäre nicht traumasensibel, kann es sein, dass die ratsuchende Person so in eine Situation gebracht wird, in der sie ähnliche Gefühle erlebt, wie in der potenziell traumatischen Situation selbst. Da traumatische Situationen meist lebensbedrohlich sind, einmal oder kontinuierlich auftreten, das Verständnis von sich selbst sowie der Welt erschüttern und außerhalb der persönlichen Bewältigungsmöglichkeiten liegen, sind häufige Gefühle dabei Hilflosigkeit, Ohnmacht und Kontrollverlust (Fischer (1998), Perrotta (2019)). Passiert dies, wird eine gemeinsame Arbeit schwierig und nur unter ungünstigen Umständen zu bewältigen. Es kann sogar zu Verschlechterungen kommen.
Sicherheit und Transparenz herstellen
Soll das verhindert werden, so ist es günstig, für sich selbst eine traumasensible Haltung und Arbeitsweise zu entwickeln. Diese kann aus meiner Perspektive und Erfahrung aus den folgenden Möglichkeiten bestehen, welche dabei nicht als erschöpfend anzusehen sind:
Erstens ist es wichtig in dem Gespräch Sicherheit her zu stellen. Dafür ist es wichtig, dass die ratsuchende Person über die Struktur des Gesprächs Bescheid weiß (Ort, inhaltlicher Rahmen und Zeit). Gleichzeitig bedeutet es, dass eine Gesprächsatmosphäre herrscht, in der „aktiv zugehört“ wird. Dabei sollte nicht nur ein Nicken oder das weit verbreitet „Hmm“ benutzt werden, sondern mit aktivem, aber unaufdringlichem Augenkontakt der ratsuchenden Person Verständnis für ihre Situation signalisiert werden.
Zweitens ist es hilfreich, der ratsuchenden Person immer wieder die Botschaft zu vermitteln, dass das, was sie erlebt, eine „normale“ Reaktion ihrer Psyche auf ein „unnormales“ Ereignis ist. Hierdurch kann im günstigsten Fall eine Entpathologisierung des eigenen Erlebens und Verhaltens erreicht werden, welche häufig zu großer Entlastung führt.
Drittens ist es wesentlich, aktiv Transparenz im Gespräch her zu stellen. Das bedeutet, dass die ratsuchende Person zu jeder Zeit im Gespräch weiß, was und warum es geschieht. Dies kann durch Erklären der eigenen Handlungen (z.B. „Ist es in Ordnung, wenn ich in Ihre Unterlagen schaue“) und durch Nachfragen (z.B. „Wollen Sie, dass wir darüber noch weiter sprechen?“) erreicht werden. Die Kontrolle über die Inhalte des Gespräches und die Situation sollte dabei ausschließlich bei der ratsuchenden Person liegen.
Viertens kann eine Aktivierung des sozialen Netzes dazu führen, dass Menschen, die potenziell traumatische Situationen erlebt haben, aus der häufig vorhandenen Isolation herauskommen. Günstige Fragen könnten dabei sein, wo im sozialen Netz Unterstützung möglich ist, welche Form von Gemeinschaft die ratsuchende Person benötigt und ob es Anknüpfungspunkte an alte Ressourcen geben könnte. Ist kein soziales Netz vorhanden, so könnte es hilfreich sein, an dem Aufbau eben dieses zu arbeiten.
Nachfragen und ernst nehmen
Fünftens kann es entscheidend sein, genau nachzufragen und die (psychische) Verfasstheit der ratsuchenden Person damit ernst zu nehmen. Menschen, die potenziell traumatische Situationen erleben, machen häufig die Erfahrung, dass andere Menschen sich „das nicht anhören können“ oder jetzt „lieber wieder zurück zum Punkt kommen“ würden. Diese Erfahrung wieder zu machen, kann sehr ungünstig sein. Wichtig dabei ist, dass sich die fragende Person auch wirklich bereit fühlt, die Schilderungen anzuhören.
Sechstens kann es je nach Situation angezeigt sein, zu überprüfen, ob weitere Schritte eingeleitet werden müssen. Dies kann eine Weitervermittlung in psychosoziale Beratung, Psychotherapie und/oder psychiatrische Behandlung sein.
Zuletzt ist es sehr bedeutend, dass in der traumasensiblen Arbeit keine weiteren Grenzverletzungen gegenüber der ratsuchenden Person und der Gesprächspartner:in passieren. Dazu gehören (auch) vermeintlich „kleine“ Situationen, wie sie in den Beispielen zu Sicherheit herstellen, Transparenz und ernst nehmen aufgeführt sind.
Gelingt es, mit Hilfe dieser Möglichkeiten, eine traumasensible Haltung und Arbeitsweise zu etablieren, kann aus meiner Perspektive und Erfahrung die gemeinsame Arbeit auf eine wertschätzende Art und Weise (besser) gelingen.
Till Voigts ist Psychologischer Psychotherapeut (VT) und Yogalehrer. Er arbeitet bei der Kontakt- und Beratungsstelle für Flüchtlinge und Migrant_innen e.V. (KuB).
Hinweis: Gastbeiträge sind Beiträge von Personen, die keine Mitarbeitenden von ARRIVO BERLIN sind. Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben die Erfahrungen der Autor:innen wieder und entsprechen nicht notwendigerweise der Meinung der ARRIVO BERLIN Redaktion.
Quellen:
Fischer, G., Riedesser, P. (1998). Lehrbuch der Psychotraumatologie, 2. Auflage, E. Reinhardt, München 1998.
Perrotta G. (2019). Psychological trauma: definition, clinical contexts, neural correlations and therapeutic approaches. Recent discoveries. Curr Res Psychiatry Brain Disord: CRPBD-100006.