In uns allen steckt ein Geflüchteter
In seinem Buch „Flucht – eine Menschheitsgeschichte“ beschreibt der preisgekrönte Historiker Dr. Andreas Kossert eine jahrhundertealte und zugleich hochaktuelle „kollektive Erfahrung“ fast aller Gesellschaften. Aus der Sicht der Betroffenen zeigt er auf, welche existenziellen Erfahrungen von Entwurzelung und Anfeindung mit dem Verlust der Heimat einhergehen.
Der Band von Kossert, ausgezeichnet mit dem NDR Kultur Sachbuchpreis als bestes Sachbuch des Jahres 2020, zeichnet anhand von vielfältigen Quellen die persönlichen Geschichten und Tragödien geflüchteter Menschen auf. Er tut dies quer durch die Welt und Epochen – von der Vormoderne bis heute, von Deutschland über Vietnam bis hin zu Syrien. Mit seiner sowohl vogelperspektivischen als auch mikroskopischen Leseart unterstreicht der Autor die Zäsur, die eine Flucht immer bei den Betroffenen und zum Teil auch ihren Nachfahren auslöst: „Durch das Erlebnis der Flucht sind die meisten Menschen für den Rest ihres Lebens gezeichnet.“
Das Protokollieren ähnlicher Fluchterfahrungen quer durch die Weltgeschichte zeigt gleichzeitig die Bedeutung von Flucht als „kollektive Erfahrung“ in fast alle Gesellschaften. „Es kann jeden treffen, und es trifft zunehmend mehr Menschen“, schreibt Kossert. Insbesondere in Deutschland stellt Flucht ein „Kernthema“ dar, und das nicht erst seit 2015, auch wenn dieses Jahr diese einschneidende Erkenntnis in der Mehrheitsgesellschaft erzeugte: „Erst 2015 […] fällt es vielen wie Schuppen von den Augen, dass nach Kriegsende vierzehn Million Deutsche dieses Schicksal teilten, dass sie Flüchtlinge und Vertriebene waren.“
Wechselseitiger Integrationsprozess
„Flucht – eine Menschheitsgeschichte“ verdeutlicht auch die zentralen gesellschaftlichen Effekte und Reaktionen, die durch Flucht und Geflüchtete ausgelöst werden. Aufgrund ihrer Talente, Fähigkeiten und ihr Wissen „fordern [Geflüchtete] die Aufnahmegesellschaften heraus, verändern und bereichern sie“, so der Autor. Nicht selten werden Geflüchtete somit „zu einer treibenden Kraft der Modernisierung“ indem sie „verkrustete Strukturen auf[brechen] – oft gegen ihren eigenen Willen“. Exemplarisch dafür seien die Geflüchteten aus Schlesien nach dem zweiten Weltkrieg, die eine veritable „kulinarische Revolution“ auslösten, als sie bis dahin weitgehend unbekannte Zutaten wie Mais, Zimt und Auberginen in die lokale Küche einführten.
Geflüchtete, und das was sie erleben und erleiden, führt der Mehrheitsgesellschaft vor Augen, „wie zerbrechlich unsere scheinbar so sichere Existenz ist“. Bestenfalls ruft Fluchtzuwanderung somit eine fragile Willkommenskultur hervor, wie es 2015 geschah. In der Regel aber, so betont der Autor, dominiert zwischenmenschliche Ablehnung: „Nach Kriegsende hat niemand auf die vierzehn Millionen Heimatlosen gewartet, geschweige denn sie mit offenen Armen empfangen“.
Das Ankommen in einer neuen Gesellschaft sei ein „komplexer, manchmal Generationen währender Prozess“, so Kossert, der nur als „wechselseitiger Prozess“ von Erfolg gekrönt werden kann. Staatliche Unterstützung spiele dabei eine wichtige Rolle um den „Balanceakt“ zwischen den Bedarfen der aufnehmenden Gesellschaft und denen der Geflüchteten zu gestalten. Über alledem schwebt die Notwendigkeit, schreibt der Autor, Geflüchtete trotz aller Gemeinsamkeiten im Singular, als individuelles Schicksal, wahrzunehmen. Und anzuerkennen, dass Flucht tief mit uns selbst verwoben ist: „In uns allen steckt ein Flüchtling“ wird der Gründer der Hilfsorganisation Cap Anamur, Rupert Neudeck, zitiert.
Mehr Informationen über das Buch und den Autoren finden Sie auf der Verlagswebseite unter:
www.penguinrandomhouse.de/Buch/Flucht-Eine-Menschheitsgeschichte/Andreas-Kossert/Siedler/e507625.rhd