Die Integration von geflüchteten Frauen in den Arbeitsmarkt hat auch mit Männern zu tun
Von der Dachdeckerin über den Koch bis hin zur Krankenpflegerin: In den kommenden Jahren werden alle motivierten und kompetenten Menschen in Deutschland gebraucht, um den Fachkräftemangel und den großen Herausforderungen unserer Zeit zu begegnen. Eine Gender-Perspektive kann dabei helfen. Aber der Ansatz hat auch seine Tücken.
Ein großer Faktor, der insbesondere in der Zukunft einen entscheidenden Einfluss auf den Fachkräftemangel haben wird, ist die alternde Gesellschaft in Deutschland. Laut aktuellen Vorausberechnungen des Statistischen Bundesamtes Destatis wird die Gesamtzahl der Erwerbs-personen zwischen 15 und 74 Jahren in Deutschland von 43,6 Millionen im Jahr 2019 mindestens auf 41,5 Millionen und höchstens auf 33,3 Millionen im Jahr 2060 abnehmen – letzteres Szenario setzt bei einer niedrigen Nettozuwanderung von 150.000 Personen pro Jahr und einem stagnierenden Erwerbsverhalten bei Männern und insbesondere bei Frauen ein.
Es ist demnach entscheidend, aktiv gegenzusteuern, um mit einer starken Fachkräftebasis auch die zukünftigen Herausforderungen – allen voran die Folgen des Klimawandels – stemmen zu können. Die Strategie der Bundesregierung und des Ministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) beinhaltet unter anderem eine Steigerung der Erwerbsbeteiligung von Frauen und Geflüchteten.
Gender
Wie kann eine Gender-Perspektive zur Fachkräftesicherung beitragen? Der Ansatz nimmt, verkürzt formuliert, das Verhältnis der biologischen Geschlechter als sozial gemacht und als veränderbar in den Blick. Das Verhalten und das Verhältnis von hauptsächlich Männern und Frauen zu- und untereinander werden somit auch gesellschaftlich antrainiert und sind nicht nur biologisch bestimmt, so die Prämisse.
Gender spielt grundsätzlich eine Rolle in der statistischen Datenerhebung – manchmal explizit, häufig implizit. Anhand von Vergleichen, zum Beispiel der Erwerbs-* oder Ausbildungsquoten, ermöglicht eine Gender-Perspektive potenzielle Differenzen zwischen den Geschlechtern zu identifizieren und zu quantifizieren. Laut dem Statistischen Bundesamt Destatis lag die Erwerbsquote bei Frauen in Deutschland 2021 bei rund 72 Prozent, gut sieben Prozent weniger als bei den Männern im gleichen Zeitraum. Bei geflüchteten Menschen in Berlin, so erläuterte Oliver Kurz, Regionaldirektion der Bundesagentur für Arbeit (Fachbereich Marktentwicklung/Migration) im März auf der Fachveranstaltung von ARRIVO BERLIN, stellen männliche Azubis über 75 Prozent der Auszubildenden mit Fluchthintergrund dar.
Frauen und Mütter
Mit Zahlen wie diesen gehen dann Forscher:innen qualitativ zu Werke, um herauszufinden, wie diese Differenz zustande kommt. Frauen und Mütter bilden bei den qualitativen Befragungen eher den Fokuspunkt als Männer und Väter. Mit Blick auf die Zahlen oben ist das im Sinne der Mobilisierung aller Arbeitskräfte, die für die zukünftigen Herausforderungen händeringend gebraucht werden, nicht verwunderlich.
In den vergangenen Jahren erschienen mehrere Studien über die Integration geflüchteter Frauen, wie neulich die Monografie „Soziale Inklusion geflüchteter Frauen – zur Rolle der Familie und Familienarbeit“, die geflüchtete Frauen unter anderem über die Hürden zum Arbeitsmarkt befragten. Auch wenn diese Studie geflüchtete Frauen in Österreich interviewte, sind die Ergebnisse durchaus mit den Berichten aus Deutschland vergleichbar.
Im Buch wird gezeigt, dass die überwiegende Mehrheit der geflüchteten Frauen aus Afghanistan und Syrien, die den Schwerpunkt der Untersuchung darstellen, eine Erwerbstätigkeit aufnehmen wollen, aber erhebliche Hürden überwinden müssen. Die Anerkennung bestehender Qualifikationen wird als Herausforderung identifiziert; genannt werden zudem fehlende Kinderbetreuung, ein eingeschränkter Zugang zu sozialen Netzwerken, eine geringere Wahrnehmung und Beanspruchung von Beratungs- und Unterstützungsangeboten im Vergleich zu männlichen Geflüchteten sowie Diskriminierungserfahrungen aufgrund „muslimisch“ gelesene Marker wie das Kopftuch.
In vielen Untersuchungen wird auch nach dem Selbstverständnis der Frauen mit Blick auf Arbeit und Familie gefragt. Einerseits belegen diese Studien ausnahmslos einen ausgeprägten Arbeitswunsch. Andererseits werden auch Äußerungen und Haltungen registriert, die als eine „traditionelle“ Mentalität gedeutet werden – die bezahlte Arbeit wird somit bei den Männern verortet, die unbezahlte Arbeit, Kinderbetreuung und Haushalt, hauptsächlich bei den Frauen. Ein direkter Zusammenhang zwischen dem Rollenbild der Frauen und ihrer Unterrepräsentation auf dem Arbeitsmarkt wird zumindest suggeriert oder auch direkt hergestellt (siehe auch den Artikel: „Schieflage durch Rollenbilder“).
Die Spannung zwischen Arbeitswunsch und Rollenbild wird in der Regel nicht direkt mit den befragten Frauen oder mit den Männern diskutiert und auch nicht von den Autor:innen der Berichte gedeutet. Hilfreich wäre eine soziologische Perspektive, die diese Widersprüchlichkeit einordnet und gewissermaßen normalisiert. Für Johannes Huinink und Dirk Konietzkas in ihrem aufschlussreichen Handbuch „Familiensoziologie – eine Einführung“ weichen verinnerlichte kulturelle Leitbilder durchaus und geschichtlich mit großer Regelmäßigkeit von „der empirischen Struktur und Vielfalt von Familien- und Lebensformen“ ab.
Was ideell für das Individuum wünschenswert erscheinen mag, wird aus materieller Notwendigkeit häufig konterkariert. Die 835 weiblichen Geflüchteten, die seit 2017 von ARRIVO BERLIN Richtung Ausbildung oder Beruf begleitet wurden, attestieren jedenfalls ein erhebliches Interesse und eine pragmatische Haltung gegenüber Ausbildung und Beruf.
Männer Mitdenken
Mit Blick auf die geringere Erwerbsquote der Frauen und die Vermutung traditioneller Rollenbilder in den Familien geflüchteter Menschen, stehen Männer angesichts der Statistik latent unter Privileg- Verdacht. Ihre relative Besserstellung gegenüber geflüchteten Frauen droht die Lage vieler Männer allerdings zu verhüllen, die vermutlich mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede mit der Situation der Frauen aufweisen.
Vermutlich. Denn nur selten nehmen Studien geflüchtete Männer in den Blick. Eine Studie des Bundesforums für Männer mit dem Titel „Geflüchtete Männer in Deutschland: Eine qualitative Erhebung der Bedarfe, Herausforderungen und Ressourcen junger geflüchteter Männer“ ist eine lesenswerte Ausnahme. Das Fazit der Autorinnen: „Das intersektionelle Ineinanderwirken der Strukturkategorien Geschlecht, reale und/oder zugeschriebene ethnische Zugehörigkeit, Alter und soziale Klasse bringt die geflüchteten jungen Männer in eine auf mehrfache Weise prekäre Lebenslage“.
Ein Gender-Ansatz braucht Männer. Der „Menschlichkeit und Subjektivität des einzelnen geflüchteten Mannes angemessen Raum zu geben“, wie die Autorinnen der Studie betonen, sei ein wichtiger Schritt, um Familiendynamiken, Erwerbsbiografien und Hürden in der Arbeitsmarktintegration besser zu verstehen und mit Maßnahmen für beide Geschlechter zu begegnen. Der Leitfaden zur geschlechterreflektierten Beratung von Jungen, Männern und Vätern des Bundesforums für Männer sei in dieser Hinsicht ein interessanter Anfang.
Maßstab des Maximums
Das statistische In-Bezug-Setzen von Frauen und Männern erlaubt ein Gegensteuern mit Maßnahmen, die Frauen stärker in den Arbeitsmarkt einbinden können. Auch bei ARRIVO BERLIN wurden aufgrund dieser Erkenntnisse frauenspezifische Angebote entwickelt, zum Beispiel bei den ARRIVO BERLIN Übungswerkstätten (siehe auch Artikel „In ihrer Kreativität kaum zu bremsen“). Die Kehrseite ist, dass geflüchtete Menschen hauptsächlich in Bezug zueinander gesetzt werden. Ein Maßstab des Maximums anstelle eines Maßstabes des Relationalen wäre im Sinne der Fachkräftesicherung produktiver. Wo in absehbarer Zeit massiv Fachkräfte fehlen werden, kann der Gradmesser für Geflüchtete eigentlich nur die maximale Erwerbsquote sein: die der Mehrheitsgesellschaft.
*Die Erwerbsquote misst die Beteiligung von Menschen am Arbeitsmarkt bzw. den Anteil der dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehenden Erwerbspersonen, also Personen, die Arbeit haben (Erwerbstätige) und Personen, die Arbeit suchen (Erwerbslose), an der Gesamtbevölkerung.
Quellen:
https://www.arrivo-berlin.de/fileadmin/mediamanager/Downloads/Praesentation_Kurz.pdf
https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Dossier/fachkraeftesicherung.html
https://www.nomos-shop.de/nomos/titel/soziale-inklusion-gefluechteter-frauen-id-103127/
https://bundesforum-maenner.de/leitfaden-maenner-gut-beraten/
https://www.campus.de/buecher-campus-verlag/wissenschaft/soziologie/familiensoziologie-2977.html
https://blog.arrivo-berlin.de/schieflage-durch-rollenbilder/