ARRIVO BERLIN Ausbildungscoaching: eine Nahaufnahme
Abdoulie C., 28 Jahre aus Gambia hat gerade seine praktische Prüfung zur Fachkraft im Gastgewerbe bestanden. Seine Ausbildungsgeschichte zeigt, mit wie vielen Rückschlägen junge geflüchtete Menschen rechnen müssen, wenn sie sich auf den langen und zum Teil steinigen Weg in die berufliche Unabhängigkeit machen. Anna Brickl, Coachin und Beraterin beim ARRIVO BERLIN Ausbildungscoaching hat ihn die vergangenen eineinhalb Jahre begleitet und berichtet von ihrer gemeinsamen Zeit.
Ich traf Abdoulie C. zum ersten Mal im Herbst 2022. Zu diesem Zeitpunkt war ich ungefähr zwei Monate bei ARRIVO BERLIN Ausbildungscoaching als Ausbildungscoach und administrative Kraft tätig und hatte mich gerade erst eingearbeitet.
Abdoulie C. fiel relativ plötzlich in meine Zuständigkeit, da meine Kollegin, die ihn bis dahin begleitet hatte, in den Mutterschutz wechselte. Die Übergabe war aufgrund ihres unerwarteten Weggangs schnell und improvisiert, ergab jedoch für mich direkt einige dringliche Themen, die aus meiner Sicht zeitnah zu bearbeiten wären. Doch zunächst bestand die Herausforderung in der Kontaktaufnahme.
Telefonisch war Abdoulie C. nicht erreichbar – nach mehreren Wochen mühsamer Kontaktversuche kam es schließlich zum ersten Kennenlernen. Zu klären war in erster Linie der aktuelle Stand seiner schulischen Leistungen – die Abschlussprüfung sollte im Frühling stattfinden. Aber auch sein Aufenthaltsstatus bereitete mir Kopfzerbrechen – seine Ausbildungsduldung lief in zwei Monaten aus. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt noch nicht viel Erfahrung im Aufenthaltsrecht und musste mich dementsprechend erst einmal einarbeiten.
Neue Chance durch Chancenaufenthalt
Ab Januar 2023 trat der neue temporäre Aufenthaltstitel „Chancenaufenthalt“ in Kraft – schnell war mir klar, dass dies eine Chance sein könnte – brachte Abdoulie C. doch aus meiner Sicht alle Voraussetzungen mit, um diesen Titel zu erhalten und sich voll und ganz auf seine Ausbildung konzentrieren zu können.
Gesagt getan, direkt nach den Weihnachtsfeiertagen beantragten wir den Chancenaufenthalt nach §104c. Nun hieß es warten – wie lange wusste damals niemand so genau. Es gab doch noch keinerlei Erfahrungswerte mit diesem Aufenthaltstitel.
Im Anschluss daran nahmen wir uns unserem eigentlichen Thema – Unterstützung für die Ausbildung – an. Es stellte sich heraus, dass definitiv Nachhilfe notwendig sein würde. Nach Rücksprache mit seiner Lehrerin war klar, dass im theoretischen Teil der Ausbildung einiges nachzuholen war. Eine ehrenamtliche Begleitung von VerAplus, dem bundesweiten Coachingprogramms des Senior Expert Service (SES), existierte bereits. Sie schien mir auch sehr unterstützend.
Langsame Annäherung
Dennoch hatte Abdoulie C. aufgrund der sprachlichen Barriere mit den fachlichen Inhalten zu kämpfen. Hinzu kamen seine zunächst schüchterne Art und die damit einhergehende Zurückhaltung, Unterstützung anzunehmen. Nach jedem unserer Gespräche konnte ich im Nachgang nicht einschätzen, was oder ob er etwas verstanden hatte, und ob dies an der sprachlichen Barriere lag oder an seiner Befangenheit.
Die Wochen zogen ins Land, der Frühling hielt Einzug – vom Landesamt für Einwanderung (LEA) und unseren Antrag auf Chancenaufenthalt gab es noch immer keine Rückmeldung – langsam wurde ich nervös, und begann gedanklich schon einen Plan B durchzuspielen.
Die wöchentlichen Sitzungen mit Abdoulie C. wurden immer produktiver – es entwickelte sich eine gemeinsame Arbeitsroutine. Unsere Treffen wurden mehr und mehr zu einem regen Austausch, in dem wir eingespielt besprachen, was zu tun war. Ich bemerkte zunehmend, wie scharfsinnig und absolut exakt Abdoulies Wahrnehmung und Einschätzungen waren; und er bemerkte wahrscheinlich, dass ich nicht lockerlasse. Langsam entwickelte sich Vertrauen zwischen uns – vielleicht oder gerade deswegen, weil wir beide auch über einen ähnlichen Sinn für Humor verfügten, wie sich nach und nach herausstellte.
Über ein Projekt der kiezküchen GmbH erhielt Abdoulie fachliche Nachhilfe in Theorie und Praxis, mit seiner VerAplus-Begleitung wurde an den Wochenenden geübt. Die theoretische Abschlussprüfung im April 2023 rückte immer näher. Doch davor kam die langersehnte Meldung vom LEA – Abdoulie wurde zur Vorsprache eingeladen. Den genannten Unterlagen nach, die mitzubringen waren, deutete alles darauf hin, dass er den Chancenaufenthalt erhalten würde.
Herausforderung Existenzsicherung
Die Erleichterung war erstmal groß, dennoch bedeutete das auch, dass sich einige behördliche Zuständigkeiten änderten. Abdoulie C. musste nun an das Jobcenter angedockt werden, um die Kostenübernahme seiner Unterkunft sowie die Krankenversicherung sicherzustellen. Der Antrag auf Bürgergeld wurde direkt gestellt, um die ernüchternde Antwort zu erhalten, dass in diesem Fall BAföG-Leistungen Vorrang hätten.
Doch auch für die BAföG-Leistungen erhielten wir eine Absage. Der Chancenaufenthalt nach §104c, seit Januar 2023 in Kraft, sei noch nicht in das System aufgenommen, und dementsprechend nicht geklärt, ob dieser Personenkreis zu den Anspruchsberechtigten gehört. Die Situation war nun, dass Abdoulie C. als Berufsfachschüler und zwei Monate vor seiner letzten Abschlussprüfung ohne finanzielle Unterstützung zum Lebensunterhalt war, und das, obwohl er Vollzeit im Praxis-Betrieb arbeitete und keinerlei zusätzlichen Job verrichten konnte. Dies trübte den Erhalt des eigentlich lang ersehnten Chancenaufenthalts Ende Juni erheblich.
In den folgenden Tagen fuhren wir durch die Stadt, von Behörde zu Behörde, um eine Lösung für seine Existenzsicherung zu finden. Es war Sommer, über 35 Grad warm. Schlussendlich stellte sich dank einer äußerst engagierten Sachbearbeiterin heraus, dass Abdoulie C. mit dem Status Chancenaufenthalt sehr wohl einen Anspruch auf BAföG-Leistungen hat – von nun an würden sich also für die restlichen zwei Monate der Ausbildung das Amt für Ausbildungsförderung und Jobcenter die Leistungen teilen.
Wir beide sind während dieser Zeit zu einem echten Team zusammengewachsen – hatten wir doch gemeinsam mittlerweile so viele Dinge geklärt, und vor allem dazu gelernt. Und es trudelten die Ergebnisse der theoretischen Prüfung ein: Abdoulie C. hatte tatsächlich bestanden! Die Freude bei uns war riesig, und alles schien auf einmal machbar.
Trotz Rückschlägen zum Erfolg
Der Betrieb, in dem Abdoulie C. seinen Praxis-Einsatz absolvierte, signalisierte, ihn nach der praktischen Prüfung in Vollzeit übernehmen zu wollen. Hierzu klärten wir die Formalien, und nun galt es „nur noch“ die praktische Prüfung Ende August zu bestehen – Abdoulie C. und alle die ihn begleiteten gingen davon aus, dass dies nun das kleinste Problem sei.
Doch wie wir es bis dahin schon oft erlebt hatten, kommt es meistens anders als erwartet. Einige wenige Punkte fehlten ihm, um die praktische Prüfung zu bestehen. Zum Glück konnte er dennoch seine Vollzeitstelle antreten und den praktischen Teil der Prüfung im Winter wiederholen.
Mittlerweile hat Abdoulie C. die praktische Prüfung im zweiten Anlauf bestanden, und ist somit Fachkraft im Gastgewerbe – diese Qualifikation kann ihm keiner mehr nehmen. Im Mai beginnt er mit einer Festanstellung in der Kantine eines Wissenschaftskollegs zu arbeiten. Sobald sein Pass eingetroffen ist, beendet er den Chancenaufenthalt und beantragt den Aufenthalt nach § 25b Aufenthaltsgesetz für nachhaltige Integration.
Warum schreibe ich dieses Portrait?
Abdoulie C. hat in der Zeit, in der ich ihn begleitet habe, trotz der Ungewissheit bezüglich seines Aufenthalts, dem Wohnen in einer Gemeinschaftsunterkunft, Schichtdienst im Praxis-Einsatz und der sprachlichen Barriere, Unglaubliches geleistet.
Die Herausforderungen, die sein Lebensumfeld betrafen – Existenzsicherung, Aufenthalt und vieles mehr – erscheinen mir rückblickend fast größer, als die eigentliche Ausbildung. Die bürokratischen Hindernisse waren für mich, aufgewachsen mit Deutsch als Muttersprache, zum Teil kaum lösbar –wie soll ein Auszubildender mit Deutsch als Zweitsprache und ohne sozialisierte Kenntnis der Behördenlandschaft da zurechtkommen? Und immer wenn ein Problem geklärt schien, kam direkt das nächste.
So beschwerlich der Weg auch immer wieder war, durch das Coaching mit Abdoulie C. habe ich hautnah miterleben dürfen, wie sehr es einen Menschen ausmacht, unabhängig macht und stärkt, wenn er einen Beruf erlernt und zur Fachkraft wird.
Wir sind zu zweit den Weg gegangen, und alles, was zu lösen war, konnten wir schlussendlich lösen – mit tatkräftiger Unterstützung seiner ehrenamtlichen Begleitung, der Berufsfachschule und zahlreichen engagierten Mitarbeiter:innen der Berliner Behörden. Dies hat mir gezeigt, dass zusammen im Team alles möglich ist, wie wichtig Vertrauen ist und auch, dass durch eine Entwicklung wie diese Integration von ganz allein passiert.
Mit dem Ende der Ausbildung endete auch die Zeit von Abdoulie C. im Coaching. Er braucht meine Unterstützung nicht mehr. Wir stehen nach wie vor in Kontakt und schreiben uns noch alle paar Wochen wie es uns geht und wie es so läuft, und seine Antwort ist meistens „Alles jut“.