Interview mit dem Team von ARRIVO BERLIN Ausbildungscoaching
Die Berliner Handwerkskammer übernahm 2018 die Trägerschaft für das Projekt ARRIVO BERLIN Ausbildungscoaching. Seitdem wurden mehrere hundert Geflüchtete während ihrer Ausbildung gecoacht und unterstützt. Im Interview sprechen Projektleiterin Irena Büttner und ihre Mitarbeiterinnen Anna Brickl, Freya Frost, Francesca Haas und Daniela Hristov über ihre Erfahrungen, Herausforderungen und Erfolge.
Wie kam es 2018 zu der Entscheidung, das ARRIVO BERLIN Ausbildungscoaching bei der Berliner Handwerkskammer anzudocken?
Irena Büttner: Die Handwerkskammer Berlin ist seit dem 1. Mai 2018 der Träger des Projektes ARRIVO BERLIN Ausbildungscoaching. Bereits seit dem 1. Januar 2017 förderte die Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen das Projekt „ARRIVED – Ausbildungscoaching für Geflüchtete in Berlin“, dessen Träger die BGZ Berliner Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit war. In den Jahren seit 2014 hatten sich insgesamt zehn Projekte mit unterschiedlicher Ausrichtung unter dem Namen ARRIVO BERLIN gegründet. 2018 wurde dann eine Koordinierungsstelle eingerichtet, um die Projekte zu einem Projektverbund zu entwickeln, und die Handwerkskammer Berlin mit der Expertise der Willkommenslots:innen und den Erfahrungen in der beruflichen Bildung installierte das Projekt ARRIVO BERLIN Ausbildungscoaching und entwickelte es fortan ständig weiter.
Erinnert ihr euch noch an die ersten Teilnehmenden?
Irena Büttner: Ja klar. Die ersten Teilnehmer:innen sind mit den Kolleg:innen aus dem Vorgängerprojekt zu ARRIVO BERLIN Ausbildungscoaching gekommen. Sie brauchten unbedingt weitere Unterstützung. Als ehemalige Willkommenslotsin bei der Handwerkskammer Berlin hatte ich zahlreiche Menschen mit Fluchthintergrund in eine Einstiegsqualifizierung oder in Ausbildung vermittelt. Dazu gehörte auch Alaa Alshihan, damals Auszubildender zum Zahntechniker, heute längst ein erfolgreich in seinem Beruf arbeitender Geselle.
Dann war da eine ganz engagierte junge Auszubildende zur Augenoptikerin mit guten Deutschkenntnissen und dem Wunsch nach fachlicher Unterstützung. Sie hatte ich schon beim Besuch des Bundespräsidenten 2018 in der Handwerkskammer kennengelernt. Oder Hamid Noori, ehemaliger Auszubildender zum Koch. Sie alle und noch viel mehr haben mit viel Fleiß, Engagement und der Unterstützung durch die Ausbildungscoaches erfolgreich ihre Ausbildung beendet und arbeiten inzwischen als Gesellen in ihren Berufen. Einige sind tatsächlich auch bereits eingebürgert und damit deutsche Staatsbürger.
Was erwartet eine:n Auszubildende:n mit Fluchthintergrund beim ersten Kennenlerngespräch?
Anna Brickl: Beim ersten Treffen mit einem potentiellen Projektteilnehmenden geht es primär darum herauszufinden, aus welchem Grund der Auszubildende den Weg zu uns ins Projekt gesucht und gefunden hat. Im Gespräch werden zunächst die Eckdaten aufgenommen, um dann im weiteren Verlauf gemeinsam zu besprechen, was das Ziel des Coachings sein könnte. Dabei geht es nicht nur um die Ausbildung als solches. Die Themen unseres Coachings umfassen zwei Bereiche. Zum einen die Situation in der Berufsschule und im Betrieb, zum anderen Themen, die um die Ausbildung herum angesiedelt sind, aber ebenso wichtig sind, um die Ausbildung erfolgreich abschließen zu können. Beispielsweise die finanzielle Situation, die Wohnsituation, Zusammenarbeit mit Behörden und natürlich der Status des Aufenthalts.
Um eine genauere Einordnung der schulischen Kenntnisse vornehmen zu können, wird ein Check-Up-Verfahren durchgeführt, ein Deutsch-Test und ein Mathematik-Test. Daraus ergibt sich eine erste, eher allgemein gehaltene Bedarfsermittlung. Die individuellen Bedarfe und Themen ergeben sich sowohl aus den Gesprächen mit Auszubildenden und Betrieb als auch im Laufe des Coachings.
Und wie geht es dann weiter?
Anna Brickl: Zu Beginn des Coachings ist vor allem wichtig, einen gemeinsamen Arbeitsmodus zu entwickeln. Ziel ist hierbei nicht, dass wir als Ausbildungscoach die Dinge für den Azubi erledigen, sondern dem Azubi dabei helfen, Handlungsbedarfe zu erkennen, um darauf reagieren zu können. Dazu braucht es viel gegenseitiges Kennenlernen und Vertrauen und benötigt seine Zeit.
Die Taktung der gemeinsamen Treffen ist dabei sehr individuell und wird in Abhängigkeit von der Handlungsfähigkeit des jeweiligen Azubis umgesetzt. Es gibt Auszubildende, die ihre Angelegenheiten möglichst alleine klären möchten und lediglich Informationen oder Tipps benötigen. Dann wiederum begleite ich Azubis, die mehr Hilfestellung wünschen und auch dringend brauchen. Dies herauszufinden und danach den Kontakt und auch die Anforderungen an den Auszubildenden zu gestalten, ist eine wichtige Etappe, die es im Coaching zu erreichen gilt.
Im Laufe der Jahre wurde in eurem Projekt viel ausprobiert, um passgenaue Angebote für die Auszubildenden zu entwickeln. Was hat sich besonders bewährt?
Anna Brickl: Sehr gut besucht sind unsere projektinternen Workshops. Diese finden etwa alle drei Monate statt und behandeln übergreifende Themen wie zum Beispiel Lernstrategien, den erfolgreichen Start in die Ausbildung, aber auch Alltagsthemen wie Umgang mit Behörden, Wohnungssuche, Aufenthaltsrecht.
Ein weiteres etabliertes Format im Projekt sind unsere Prüfungsvorbereitungskurse. Aufgrund der hohen Anzahl an Maler/Lackierer-Azubis im Projekt bieten wir für diese Zielgruppe ein passgenaues Programm zur Prüfungsvorbereitung in diesem Berufsfeld an. Seit Frühling 2022 finden regelmäßig Kurse statt für Azubis, deren Zwischen- oder Abschlussprüfung ansteht. Hier zeigt uns die hohe Zahl an erfolgreichen Abschlüssen, dass diese Vorbereitung dringend benötigt und gut angenommen wird.
Ein regelmäßiges Angebot ist auch unsere Nachhilfe in Mathematik. Hier findet immer wöchentlich ein Kurs bei uns am Standort statt, in dem die Grundlagen vermittelt und vertieft werden sowie Aufgaben aus der Berufsschule bearbeitet werden können. Und die Zusammenarbeit mit VerAplus, also dem Matching von ehrenamtlichen Fachkräften im Ruhestand und unseren Auszubildenden, ist hier auch ganz klar zu nennen.
Ihr arbeitet schon lange mit der Initiative VerA des Senior Expert Service (SES) zusammen. Wie sind die Ehrenamtlichen in eure Arbeit eingebettet?
Irena Büttner: Die Initiative VerA, seit 2024 VerAplus (Verbesserung von Ausbildungsabschlüssen) ist eine starke Säule im Unterstützungsportfolio für unsere Auszubildenden. Je nach Bedarf des:der Auszubildenden leisten die Begleiter:innen unter anderem Hilfe beim Erledigen der Hausaufgaben aus der Berufsschule oder beim Schreiben der Berichtshefte.
Eine große Hilfe sind die Begleiter:innen bei der Nachbereitung der Inhalte des Faches Wirtschafts- und Sozialkunde und bei der Vorbereitung auf die Zwischen- und Abschlussprüfungen. Nicht zu vergessen ist ihre Unterstützung bei der Integration in die Gesellschaft, beim Ankommen in Berlin. Sie motivieren oder leihen ihren Mentees auch mal nur ihr Ohr, wenn‘s mal nicht so gut läuft, egal ob im Betrieb oder in der Berufsschule.
Die Coaches von ARRIVO BERLIN Ausbildungscoaching verstehen sich bei der Zusammenführung und Arbeit dieser Tandems als Mittler und Schnittstelle. Beim ersten Gespräch zwischen beiden ist der Coach dabei. Seit langem sind die Projektmitarbeiterinnen aktiv bei den Erfahrungsaustauschen der Initiative VerAplus und berichten über ihre Arbeit im Projekt.
Welche Rolle spielt die Unterstützung beim Spracherwerb für eure Arbeit?
Francesca Haas: Um einen Beruf zu erlernen und die Gesellenprüfung zu bestehen, sind gute Deutschkenntnisse unerlässlich. Für die Azubis, die nur Schwierigkeiten mit dem Verständnis von Erklärungen in der Schule und der Sprache, die in Tests verwendet wird, haben, können viele sprachliche Lücken durch die Zusammenarbeit mit den Ehrenamtlichen von VerAplus oder den Mentor:innen aus dem Landesprogramm Mentoring geschlossen werden. Mit ihnen können sie individuell lernen und vereinfachte Erklärungen erhalten.
Für diejenigen, die größere Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache haben, was sich auch auf die praktische Leistung auswirken kann, ist diese Art der Unterstützung möglicherweise nicht ausreichend. Daher haben wir einen Kurs zur Stärkung der Kommunikation während der Ausbildung konzipiert, der auf diese Zielgruppe zugeschnitten ist und seit März 2024 wöchentlich bei uns stattfindet.
Für viele Geflüchtete ist die Berufsschule eine der größten Herausforderungen. Über welche Schwierigkeiten berichten eure Auszubildenden im Besonderen?
Freya Frost: Wie bereits erwähnt, wird als besonders herausfordernd in der Berufsschule die sprachliche Barriere empfunden. Dies betrifft die allgemeinen Sprachkenntnisse, aber natürlich größtenteils die fachbezogene Sprache. Grundlage, um den Lernstoff sowie die Prüfungsaufgaben zu verstehen, sind nun mal Kenntnisse der Fachbegriffe in den jeweiligen Berufen. Zudem berichten uns viele Auszubildende, dass sie mit dem Fach Wirtschafts- und Sozialkunde Schwierigkeiten haben. Das Fach ist äußerst anspruchsvoll und beinhaltet hauptsächlich wirtschaftliche und gesellschaftliche Themen sowie politische Bildung.
Häufig findet die Berufsschule auch nur an ein oder zwei Tagen in der Woche statt. Dies bedeutet, dass in kurzer Zeit sehr viele Lerninhalte vermittelt werden. Neben dem Berufsalltag bleibt oftmals wenig Zeit, das Gelernte nachzuarbeiten und zu wiederholen. Ich gehe davon aus, dass einige Auszubildende mit Fluchthintergrund mehr individuelle Förderung benötigen würden. In Anbetracht der heterogenen Zusammensetzung der Schüler und Schülerinnen aufgrund von unterschiedlichem Vorwissen, Berufserfahrung, Lernkompetenz und Sprachkenntnissen sowie den Klassengrößen und den kurzen Unterrichtszeiten, ist dies jedoch seitens der Berufsschule nur schwer zu ermöglichen.
Habt ihr Ideen, wie diese Probleme gelöst werden könnten?
Freya Frost: Einige Unterstützungsangebote und Ideen wurden bereits von meinen Kolleginnen genannt, wie zum Beispiel die Begleitung von Ehrenamtlichen (VerA und LPM) oder unsere ARRIVO-Angebote. Wünschenswert wären Nachhilfeangebote sowie berufsspezifische Sprachkurse, die in der Berufsschule, wenn möglich nach dem Unterricht, stattfinden. Somit würde der Zugang zur Nachhilfe vereinfacht werden und die Auszubildenden müssten nicht nach einem ohnehin schon anstrengenden Arbeitstag lange Fahrtwege auf sich nehmen.
Die AsaFlex-Nachhilfe, welche von der Arbeitsagentur gefördert wird, basiert auf berufsspezifischer Förderung und die Azubi Akademie von der Handwerkskammer Berlin bietet unter anderem einen wöchentlichen sowie prüfungsvorbereitenden Kurs für das Fach Wirtschafts- und Sozialkunde an.
Es gibt viele kostenlose unterstützende Angebote für die Auszubildenden, jedoch darf man nicht vergessen, dass sie Vollzeit arbeiten und ihre Freizeit begrenzt ist. Trotzdem nehmen fast alle unsere Auszubildenden an Nachhilfeangeboten teil, um die Berufsschule zu meistern.
Was ist nötig, damit mehr Geflüchtete ihre Ausbildung erfolgreich absolvieren?
Francesca Haas: Auszubildende mit einem gesicherten Aufenthaltstitel und einem stabilen Lebensumfeld verfügen über eine bestmögliche Ausgangssituation, um ihre Ausbildung erfolgreich zu absolvieren. Wenn es so einfach wäre, dann wären wir von ARRIVO BERLIN Ausbildungscoaching ja nicht mehr notwendig. Die Realität sieht etwas anders aus: Wir begleiten Auszubildende unter anderem mit Sprachbarrieren, mit unsicherem Aufenthaltsstatus, mit prekären Wohnsituationen und Herausforderungen bei der Lösung der Anforderungen der Behörden. Da setzen wir dann mit unserer Unterstützung an. Das haben meine Kolleginnen aber schon gut beschrieben.
In manchen Situationen würden wir uns eine bessere Erreichbarkeit und ein schnelleres Reagieren einiger Behörden wünschen. Lange andauernde Prozesse wirken sich hier manchmal nachteilig auf die Ausbildungsmotivation aus. Auch sind wir im ständigen Austausch mit den Netzwerkpartner:innen, um beste Lösungen für herausfordernde Situationen bei unseren Auszubildenden zu entwickeln und dabei möglichst einheitliche Standards umzusetzen. Wir arbeiten derzeit daran, die Eigeninitiative und Eigenverantwortung unserer Auszubildenden zu stärken. Das wird ihnen helfen, sich auch selbst zurechtzufinden, Herausforderungen anzugehen eine Integration in Arbeit und Gesellschaft hinzubekommen.
Wie sieht die Zusammenarbeit mit den Betrieben aus, in denen eure Coachees ihre Ausbildung machen?
Freya Frost: Nach dem ersten Kennenlernen und dem Aufnahmetermin mit den Auszubildenden, treten wir in Kontakt mit den Betrieben. Wir vereinbaren einen Betriebsbesuch, an dem alle drei Parteien teilnehmen: Ausbilder:in beziehungsweise Vorgesetzte:r, der:die Auszubildende und der Ausbildungscoach. Gemeinsam stecken wir Ziele fest, wie die Ausbildung bestmöglich unterstützt werden könnte. Der Betriebsbesuch ist für uns sehr wichtig, da wir einen Eindruck vom Arbeitsumfeld, dem Arbeitsklima und den Anforderungen an die Auszubildenden erhalten. Ebenso ist es unerlässlich, dass der Betrieb uns persönlich kennenlernt und unsere Rolle als Coach versteht sowie ein Verständnis von unserer Zusammenarbeit erhält.
Schließlich beinhaltet das Coaching auch immer Rücksprache mit dem Betrieb, sei es, wenn es um die Freistellung für Nachhilfeangebote, Workshops oder Termine geht. Ebenso sind wir auf die Zuarbeit von den Betrieben bei behördlichen und aufenthaltsrechtlichen Angelegenheiten angewiesen (etwa Ausstellung von Dokumenten für Anträge oder Nachweise über das aktuelle Ausbildungsverhältnis). Natürlich kommt es auch vor, dass es Schwierigkeiten zwischen den Auszubildenden und den Betrieben gibt. Hier nehmen wir eine vermittelnde Position ein, gehen ins Gespräch mit beiden Seiten und versuchen gemeinsam Lösungen zu finden.
Unser Ausbildungscoaching basiert auf einer Kooperation zwischen den Auszubildenden, dem Betrieb und uns. Der Kontakt und Austausch mit den Betrieben ist von höchster Relevanz, so profitieren diese doch von eigens ausgebildeten Fachkräften. Dies führt nach erfolgreichem Abschluss der Ausbildung zur Gewinnung von Gesellen und Gesellinnen und somit natürlich zur Fachkräftesicherung in Berlin.
Und zum Schluss: Welche:r Teilnehmende ist euch besonders in Erinnerung geblieben und warum?
Anna Brickl: Ich denke, Teilnehmende, deren Situation anfangs sehr herausfordernd und ausweglos erschien und man sich da gemeinsam und erfolgreich herausgearbeitet hat, sind sicherlich diejenigen, an die man sich lange und immer wieder gerne erinnert. Auch ist es unglaublich schön auf die Entwicklung zurückzublicken, die man zusammen durchlaufen hat. Insbesondere wenn sich über die Zeit langsam Vertrauen aufgebaut hat und man zu einem Team geworden ist. (Siehe auch: Wir sind zu zweit den Weg gegangen)
Freya Frost: Die Frage finde ich persönlich sehr schwer zu beantworten, weil jede:r Teilnehmer:in auf eine Art und Weise besonders ist und daher in Erinnerung bleibt. Meine Kollegin Anna Brickl hat es schon schön zusammengefasst. Manchmal steht man vor ziemlich großen Herausforderungen, um einen Ausbildungserfolg zu sichern.
Ich hatte mal einen Fall, dass wir nicht wussten womit wir nun zuerst anfangen sollen, weil die komplette Lebenssituation sehr prekär erschien. Gemeinsam haben wir uns Schritte überlegt, die Probleme zu lösen, sind zusammen zu Beratungsstellen gegangen und haben viel Zeit damit verbracht, zu telefonieren und Briefe zu schreiben. Im Endeffekt konnten wir eine Räumungsklage und weitere Überschuldung abwenden. Solche Erfolgserlebnisse bleiben natürlich in Erinnerung und schweißen zusammen.