
Interview: „Vielfalt muss gepflegt und verstanden werden“
Vielfalt hat viele Dimensionen. Vielfalt wertzuschätzen heißt, unterschiedliche Eigenschaften und Lebensweisen zu berücksichtigen. Im Kern geht es dabei um Geschlecht, sexuelle Orientierung, Alter, ethnische Herkunft und Nationalität, Religion und Weltanschauung sowie Behinderung und soziale Herkunft. Alle diese Dimensionen spielen auch bei ARRIVO BERLIN mehr oder weniger eine wichtige Rolle, allen voran die ethnische Herkunft.
Wir haben mit unseren Teilprojekten RingPraktikum, Gesundheit, Soziales und Übungswerkstätten über ihre praktischen Erfahrungen mit Diversität gesprochen.
Welche Rolle spielt Vielfalt eurer Meinung nach in der Arbeitswelt?
Felix Baller (ARRIVO BERLIN Übungswerkstätten): Vielfalt ist unverzichtbar für die Zukunft des Handwerks: Wenn wir auf den ungebremsten Fachkräftemangel blicken, dann kann sich das niemand leisten, grundsätzlich fitte, engagierte Bewerber:innen aufgrund diskriminierender Zuschreibungen abzulehnen. Gleichzeitig müssen natürlich vor allem eine Stimmung und Haltung am Arbeitsort herrschen, in der sich verschiedene Leute willkommen fühlen können. Natürlich kommt es auch immer wieder vor, dass Vorstellungen in etablierten Institutionen festgefahren sind und es wenig Offenheit gegenüber Veränderung und Neuerungen gibt.
Ann-Katrin Molnar (ARRIVO BERLIN Gesundheit): Auf der einen Seite gibt es im Zuge des Fachkräftemangels und der Rekrutierung und Einstellung von Menschen mit Migrationserfahrung eine zunehmende Diversifizierung des Pflegepersonals in Bezug auf Sprachen, Nationalitäten, Religion und ethnische Herkunft. Auf der anderen Seite spielt vielfaltssensible Pflege durch das Pflegepersonal eine wachsende Rolle im Gesundheitswesen, um den Entwicklungen in unserer Gesellschaft, die durch Migration und wachsende Diversität geprägt sind, zu entsprechen. Sensibilität für Vielfalt spielt also im Umgang mit den Patient:innen sowie mit Kolleg:innen eine immer bedeutendere Rolle.
Francesca Rizzo (ARRIVO BERLIN Soziales): Vielfalt spielt in sozialen Berufen eine entscheidende Rolle, da soziale Berufe direkt mit Menschen und ihren Lebensumständen und Bedürfnissen zu tun haben. In diesen Berufen ist es wichtig, eine Kultur der Inklusion und Diversität zu schaffen, um sicherzustellen, dass alle Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, Rasse, Ethnizität, Religion, sexuellen Orientierung oder anderen Merkmalen, fair und angemessen behandelt werden. Soziale Berufsgruppen müssen sich der unterschiedlichen Bedürfnisse und Lebenserfahrungen ihrer Klienten bewusst sein, um ihnen bestmöglich helfen zu können.
Und welche Bedeutung hat Vielfalt in eurem Projekt? Was verbindet ihr mit Vielfalt?
Francesca Rizzo (ARRIVO BERLIN Soziales): Unser Projekt ist Vielfalt. Vielfalt trägt dazu bei, den Horizont der Mitarbeiter:innen und Teilnehmenden des Projekts zu erweitern, indem sie eine breitere Perspektive auf die Welt und die Erfahrungen anderer Menschen gewinnen. Ein Verständnis für Vielfalt und die Fähigkeit, mit Menschen aus verschiedenen Hintergründen zu arbeiten, ist unerlässlich für erfolgreiche Arbeit in sozialen Berufen.
Thomas Nittka (ARRIVO BERLIN RingPraktikum): Zusammenleben und -arbeiten in Vielfalt ist zunächst auch eine Herausforderung. Die Gefahr von Missverständnissen ist allgegenwärtig. Vorurteile herrschen auf allen „Seiten“ und nehmen Einfluss auf die Wahrnehmung und dadurch auf unser Handeln. Das gilt für uns als Projektmitarbeitende ebenso wie für Teilnehmende und Unternehmensmitarbeitende. Damit die geflüchteten Menschen nachhaltig auf ihrem Weg in den Arbeitsmarkt unterstützt werden können, benötigen alle an diesem Prozess Beteiligten – inklusive der Teilnehmenden – eine ausgeprägte Kultursensibilität. Daran müssen wir uns selbst als Team und auch Teilnehmende sowie Unternehmensmitarbeitende immer wieder erinnern, in der Hoffnung, dass so Missverständnisse als solche erkannt werden und infolge dessen Arbeits- und Ausbildungsverhältnisse nicht überflüssiger Weise abgebrochen werden.
Ann-Katrin Molnar (ARRIVO BERLIN Gesundheit): Auch in unserem Projekt spielt Vielfalt eine große Rolle. Alle unsere Teilnehmenden sind sehr unterschiedlich in Bezug auf ihre Erfahrungen, Ressourcen, Wünsche und Bedürfnisse. Als Team versuchen wir dieser Diversität natürlich stets mit Offenheit und Lernbereitschaft zu begegnen.
Welche Erfahrungen machen eure Projektteilnehmenden in Bezug auf das Thema Diversität?
Ann-Katrin Molnar (ARRIVO BERLIN Gesundheit): Gerade im Bereich der Pflege, wo die Arbeitsbelastung und der Personalmangel ohnehin groß sind, kann es für Teams häufig als Extrabelastung wahrgenommen werden mit Menschen mit Migrations- oder Fluchterfahrung und eventuell noch nicht perfekten Sprachkenntnissen zusammenzuarbeiten. Deshalb sind nicht alle Arbeitgeber offen gegenüber der Einstellung von Menschen zum Beispiel mit eingeschränkten Sprachkenntnissen, anderen Nationalitäten oder ethnischen Hintergründen. Wir als Team von ARRIVO BERLIN Gesundheit sehen es aber auch als unsere Aufgabe in solchen Fällen zu vermitteln und Vorurteile zum Beispiel durch persönlichen Kontakt abzubauen, damit alle Seiten im besten Fall eine positive Erfahrung machen.
Thomas Nittka (ARRIVO BERLIN RingPraktikum): Die Erfahrungen unserer Teilnehmenden sind ebenfalls sehr vielfältig. Es gibt jene, die mit ihrer neuen Arbeitssituation sehr glücklich und am Ende eines Arbeitstages energetisiert, anstatt müde sind. Es gibt aber auch vorurteilsbehafteten, diskriminierenden bis hin zu rassistischem Umgang miteinander. Letzteres ist der Hintergrund der Initiative „Netzwerk mit Courage: Gegen Menschenfeindlichkeit und Diskriminierung!“ des Unternehmensnetzwerks Großbeerenstraße, dessen Gründungs- und Vorstandsmitglied unser Träger TeachCom ist.
Felix Baller (ARRIVO BERLIN Übungswerkstätten): Im Handwerk ist es, wie vielerorts: In Betrieben, in denen sich die Kolleg:innen recht ähnlich sind, können Rassismus und Vorurteile wachsen. Wenn es aber eine grundsätzliche Offenheit gibt, dann werden Vorurteile schnell entkräftet, wenn zum Beispiel der neue Teamkollege zu einer vermeintlich fremden Gruppe gehört. Dann steht ja das Individuum im Vordergrund und verallgemeinernde Gruppenzuschreibungen funktionieren oft nicht mehr.
Francesca Rizzo (ARRIVO BERLIN Soziales): Eine wesentliche Voraussetzung für die Wertschätzung der Diversität ist, sie zu verstehen und erklären zu können. Das grundlegende Instrument, um in der Diversität ein gemeinsames Bindeglied zu finden, ist daher die Kenntnis der Sprache, in diesem Fall der deutschen Sprache. Für unsere Teilnehmenden ist es wichtig, dass sie die deutsche Sprache gut beherrschen, damit sie von uns, ihren künftigen Arbeitgebern und künftigen Kunden verstanden werden können. Diversität ist Sprachkenntnis. Die Erfahrungen unserer Teilnehmenden sind unterschiedlich: Diversität muss während der gesamten beruflichen Laufbahn gepflegt und verstanden werden. Dazu muss die Sprache gepflegt werden, um Missverständnisse und ungerechtfertigte Vorurteile zu vermeiden.
Ist für die Unternehmen, mit denen ihr zusammenarbeitet, Vielfalt ein Thema? Hat sich da in den vergangenen Jahren etwas getan?
Felix Baller (ARRIVO BERLIN Übungswerkstätten): Da hat sich gewaltig was getan. Immer mehr Betriebe schauen mehr auf die individuellen Potenziale von Ausbildungsanwärter:innen und nicht auf die Zugehörigkeit zu irgendwelchen Gruppen. Mit der Bereitschaft der Unternehmen und vielen Projekten, die Azubis zusätzlich zu fördern, ist der Ausbildungserfolg für mehr Leute realistisch. Der größte Unterschied ist vielleicht, dass das, was das Normalste sein sollte, für viele Kolleg:innen im Handwerk auch eine normale Vorstellung ist: Dass Geflüchtete erfolgreich eine Ausbildung absolvieren und damit dann gleichberechtigte Kolleg:innen werden. Dann fehlt nur noch, dass Geflüchtete später selbst ausbilden.
Thomas Nittka (ARRIVO BERLIN RingPraktikum): Die unternehmerische und soziale Bedeutung von Vielfalt wächst auch für kleine und mittelgroße Unternehmen (mit denen wir im Wesentlichen zusammenarbeiten). Bereits 2013, also schon vor der verstärkten Zuwanderung ab 2015 und der Senatsinitiative ARRIVO BERLIN, hat das Netzwerk Großbeerenstraße die bereits erwähnte Initiative „Netzwerk mit Courage“ ins Leben gerufen, mit der sich die Mitgliedsunternehmen verpflichten, kontinuierlich gegen Diskriminierung in den eigenen Unternehmen als auch mit Partnern im Sozialraum vorzugehen. Später wurde erweiternd die Förderung des demokratischen Miteinanders insgesamt und des Europäischen Gedankens als Anspruch ergänzt. Die rund 60 Mitgliedsunternehmen sehen ihre gesellschaftliche Verantwortung als Arbeitgeber:innen und nehmen sie unter anderem mit dem ARRIVO BERLIN RingPraktikum wahr.
Mit dem EU-geförderten Projekt „Berufsintegration durch Zusammenarbeit – BidZ“ hat das Netzwerk in den letzten drei Jahren politische Aufklärungsarbeit zum Thema Flucht und Migration geleistet, Seminare zu Rassismus, zur Förderung von Diversity-Kompetenzen und zur diversitätsorientierten Organisations- und Personalentwicklung in größerem Umfang umgesetzt. Außerhalb des Netzwerks Großbeerenstraße gibt es die Charta der Vielfalt und das ebenfalls sehr aktive Netzwerk “Unternehmen integrieren Flüchtlinge – NUIF“ sowie viele weitere Aktivitäten, beispielsweise, dass Unternehmen Diversity-Beauftragte einstellen. Es passiert aktuell also sehr viel.
Francesca Rizzo (ARRIVO BERLIN Soziales): Obwohl es in den letzten Jahren in Bezug auf Vielfalt und Inklusion in der Arbeitswelt sicherlich Fortschritte gegeben hat, gibt es aber immer noch viel zu tun, um eine wirklich inklusive Arbeitsumgebung zu schaffen. Unternehmen müssen sicherstellen, dass ihre Rekrutierungsprozesse fair und inklusiv sind, um sicherzustellen, dass sie Talente aus einer Vielzahl von Hintergründen anziehen. Es muss darauf geachtet werden, dass Menschen aus unterrepräsentierten Gruppen nicht aufgrund von Vorurteilen oder unbewussten Vorurteilen diskriminiert werden. Alle Mitarbeiter müssen über Vielfalt und Inklusion geschult und sensibilisiert werden, um ein Verständnis für die Bedeutung von Vielfalt zu schaffen und Vorurteile zu reduzieren.
Auch engagierte Einzelpersonen können einen großen Unterschied in den Betrieben machen. Wenn beispielweise ein Ausbildungsleiter dafür brennt, verschiedenste Leute von seinem Beruf zu begeistern und auch die verschiedenen Herausforderungen der unterschiedlichen Azubis mitdenkt, dann kann das auch in großen Unternehmen einen wichtigen Unterschied machen.
Auch eure Projektteams sind multilingual und multikulturell. Wie erlebt ihr diese Vielfalt?
Francesca Rizzo (ARRIVO BERLIN Soziales): Vielfältigkeit spielt in unserem Team eine große Rolle. Unser Team ist gerade deshalb so vielfältig, um unseren Teilnehmern bei den Sprachkenntnissen zu helfen und ihnen zu signalisieren, dass Inklusion möglich ist und dass wir ein Beispiel dafür sind. Unser Team profitiert von dieser Vielfalt, denn die Zusammenarbeit zwischen uns basiert immer auf Respekt und Bewunderung für unsere Unterschiede. Wir bestehen darauf, eine inklusive Arbeitsumgebung zu schaffen, in der alle Mitarbeiter:innen sich geschätzt und respektiert fühlen. Jeder von uns ist mit einer anderen Sprache aufgewachsen, hat an einem anderen Ort studiert und gelernt, in einer anderen Kultur zu arbeiten. Jeder von uns nutzt die Vielfalt und die Fähigkeiten der anderen, um sich selbst zu verbessern und als Team besser zu arbeiten. Es geht darum, die Vielfalt und Einzigartigkeit jedes Einzelnen zu schätzen und zu respektieren.
Thomas Nittka (ARRIVO BERLIN RingPraktikum): Unsere „bunte Mischung“ ist sehr anregend! Internationale Redewendungen, unterschiedliche Sichtweisen und Herangehensweisen regen zum Nachdenken an und inspirieren. Die Unterschiedlichkeit eröffnet bei uns allen neue Horizonte. Die multilinguale und -kulturelle Zusammensetzung des Teams erleichtert Zugänge zu Teilnehmenden und deren wertschätzende Begleitung.
Was muss sich eurer Meinung nach in Bezug auf Vielfalt in der Arbeitswelt noch tun?
Thomas Nittka (ARRIVO BERLIN RingPraktikum): Das Gleiche, wie auch außerhalb des Firmengeländes: Die Förderung von Diversitätsoffenheit und gleichzeitig die Stärkung unserer demokratischen Grundwerte als Basis unseres Zusammenlebens.
Ann-Katrin Molnar (ARRIVO BERLIN Gesundheit): Es ist ja zu beobachten, dass immer mehr Unternehmen das Thema Diversität erkennen und Konzepte entwickeln. Meiner Meinung nach wäre es wichtig, dass diese Konzepte auch Umsetzung finden und nicht nur auf dem Papier existieren. Gerade das Gesundheitswesen kommt nicht umhin, sich mit Diversität in der Zukunft zu beschäftigen und einen nachhaltigen Umgang mit Vielfalt in den Einrichtungen zu entwickeln.
Felix Baller (ARRIVO BERLIN Übungswerkstätten): Ganz konkreten Bedarf sehen wir beim Thema Teilzeitausbildungen. Flexiblere Rahmenbedingungen bei der Arbeitszeit sind unverzichtbar, damit für mehr Frauen und insbesondere für Mütter eine Ausbildung im Handwerk realistisch ist.
Francesca Rizzo (ARRIVO BERLIN Soziales): In der heutigen Welt ist Vielfalt ein wichtiges Thema in vielen Bereichen, einschließlich Arbeitsplatzkultur, Bildung, Politik und Gesellschaft im Allgemeinen. Unternehmen und Organisationen erkennen zunehmend den Wert von Vielfalt und bemühen sich, eine Kultur der Inklusion zu schaffen, in der sich alle Mitarbeitenden geschätzt und akzeptiert fühlen. Eine positive Einstellung zur Vielfalt kann dazu beitragen, Vorurteile und Diskriminierung zu reduzieren und eine gerechtere und inklusivere Gesellschaft aufzubauen. Indem wir die Unterschiede und Einzigartigkeiten anderer Menschen schätzen und respektieren, können wir dazu beitragen, eine Welt zu schaffen, in der alle Menschen gleich.